Das Denken ist in der Sprache zu Hause

Im Rahmen des 16. Internationalen Literaturfestivals Berlin untersucht Sigrid Weigel an diesem Abend die Übersetzungsarbeit von Hannah Arendt, oder besser: die unterschiedlichen Denk- und Schreibweisen der Philosophen im Englischen und im Deutschen. Im Vergleich der deutschen und englischen Schriften Arendts offenbart sich ein wandel im Argumentationsstil nach der Emigration in die USA. Der abend erhellt, welch spannend unterschiedliche Argumentationsketten ihr das Englische bzw. Deutsche ermöglichten.

Die Philosophin Hannah Arendt.

Hannah Arendt, die große Philosophin des 20. Jahrhunderts, verließ Deutschland 1933 nach der Machtergreifung und ihrer kurzen Inhaftierung durch die Gestapo. Nach Stationen in der Tschechoslowakei, der Schweiz und Frankreich wanderte sie 1941 schließlich in die USA aus. Dort begann sie sofort Englisch zu lernen und auf Englisch zu schreiben. Viele von Arendts Hauptwerken erschienen also zuerst auf Englisch und wurden von ihr selbst in ihre Muttersprache übersetzt.

Sigrid Weigel, Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaft, erkennt zwei unterschiedliche Herangehensweisen in Arendts Texten: als „Dichterisches Denken“ bezeichnet sie Arendts Arbeit auf deutsch; eine „Autorin politischer Theorie“ sieht sie in den englischen Schriften am Werk. Ihre deutschen Texte seien stark von deutscher Philosophie (Idealismus) geprägt und die Sprache daher sehr malerisch, affektiv und bildlich. Im Englischen hingegen fände sich eine stärker rationale, sachliche und idiomatische Sprache, ganz in der Tradition der analytischen, empirischen Philosophie des angelsächsischen Raums.

Sigrid Weigel, Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaften.

An ausgewählten Passagen vergleicht sie die freieren Assoziationen und rhetorischen Figuren von Arendt im Deutschen vom Pragmatismus ihrer englischen Wendungen. In der kontinentalen Philosophie kommt erst die Sprache, dann die Idee; im angloamerikanischen Raum hingegen hat sich die Sprache der Klarheit der Idee unterzuordnen – so könnte eine etwas grobe Kategorisierung der beiden Denkschulen lauten. Ganz salopp soll Arendt in diesem Zusammenhang einmal selbst gesagt haben, man müsse „den Amerikanern eine Idee von Philosophie beibringen und den Deutschen was Politik ist“.

Durch ihr Schaffen in zwei Sprachen und ihre Selbstübersetzung habe Arendt in den USA statt einer Assimilierung also eine Amalgamierung durchlebt, eine Verschmelzung statt einer Anpassung. Ihre Selbstübersetzung stellt dabei einen höchst kreativen Prozess dar, so analysiert Weigel, weil Arendt ihre Gedanken nicht einfach analog überträgt, sondern sie neu formt. Dieser Prozess ähnelt der Beschreibung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud: Erinnern, wiederholen, durcharbeiten. In der Lektüre ihrer eigenen Texte hat Arendt ihre Argumentation so nochmals schärfen und neu überdenken können.

So hat auch die englische Sprache sie auf neue Begrifflichkeiten im Deutschen gestoßen. Beispielsweise spricht man im Deutschen in der Philosophie in der Regel von der „Natur des Menschen“. Im Englischen bzw. Lateinischen lautet der feststehende Begriff „conditio humana“, also die Bedingtheit des Menschen. Die sich aus der Zweisprachigkeit ergebenden Wortwörtlichkeiten und Fehlübersetzungen nennt Weigel „produktive Missverständnisse“, denn Arendt nutzt sie von nun an zur Reflektion über die Dialektik von Begrifflichkeiten. Die „conditio humana“ ist fortan eben nicht mehr nur die Natur des Menschen, sondern die menschliche Bedingtheit offenbart ihre doppelte Herkunft in Natur und Kultur. Der Mensch ist im Unterschied zum Tier vor allem ein handelndes aktives Subjekt und durch sein Tätigsein bestimmt, sein Handeln, d. h. sein politisches Wesen bestimmt.

Es ist ein Abend voller interessanter Gedanken und Einblicke, die aufgrund der Fülle von Weigels Wissen und dem kurzweiligen Format leider nur gestreift werden können. Auch bleibt zu wenig Zeit, um Passagen aus Arendts Werken im direkten Vergleich auf Englisch und Deutsch vorzulesen. Zum Schluss gibt es dann noch ein unzusammenhängendes aber schönes Zitat von Arendt, das die Achse ihres Schaffens von der Politik über die Philosophie bis hin zur Poesie verlängert: „Die Liebe ist ein Ereignis aus dem eine Geschichte werden kann oder ein Geschick.“

Wer sich tiefer in die Thematik einarbeiten möchte, dem seien folgende Literaturhinweise ans Herz gelegt:

Mona Eikel-Pohen über die Verwendung des Konjunktivs in Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem (1963).

Ursula Ludz, Übersetzerin und Herausgeberin, Bibliografie der Veröffentlichungen Hannah Arendts in beiden Sprachen.

Hannah Arendt, Denktagebuch, Piper, München, 2002.

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16. Internationales Literaturfestival Berlin
Sigrid Weigel – Hannah Arendts Zweisprachiges Schreiben. Selbstübersetzung als kreativer Umgang mit der Differenz der Kulturen
Haus der Berliner Festspiele | Gartenbühne
14.9.2016 | 19.30 Uhr

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