Aferim von Radu Jude bei der 65. Berlinale

„Aferim!“ (Türkisch: Bravo!) ist der ironische Titel der Road-Movie-Satire von Radu Jude, für den der Rumäne bei der 65. Berlinale diese Woche den Silbernen Bären für die beste Regie erhielt. Mit „Aferim!“ beglückwünscht sich in dem sarkastischen Gesellschaftsportrait nämlich unentwegt die rassistische Ignoranz selbst – so geht Jude den Ursprüngen des rumänischen Antiziganismus nach und hält heutigen Generationen den beschämenden Spiegel vor die Nase.

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In dem schwarz-weiß gedrehten Historienfilm folgen wir dem schwarz-weißen Denken von Hauptmann Constandin (Teodor Corban) und seinem Sohn Ionita (Mihai Comănoiu) durch die Walachei im Jahre 1835. Auf der Suche nach einem geflohenen Roma-Sklaven streifen sie – dem Doppelpack Don Quixote und Sancho Panza nicht unähnlich – mit ihren Pferden durch das Land. Der gesuchte Rom Carfin (Cuzin Toma) ist dem reichen Bojaren Iordache (Alexandru Dabija) davon gelaufen, nachdem dessen ihn Frau mit dem Sklaven betrogen hat. Carfin fürchtet – zu Recht-, dass der Zorn und die Strafe des betrogenen Mannes ihn und nicht die Bojaren-Gattin treffen wird.

Jude reichen die beiden Hauptakteure, um eine ganze Gesellschaft ins Bild zu holen. Er schafft dies durch dichten Dialog und episodische Begegnungen am Rande des Weges. In langen Einstellungen erklärt der Vater dem Sohn die Welt in der vereinfacht selbstgerechten Weise, mit der man sich soziale Unterschiede so gern erklärt, wenn man auf der Gewinnerseite steht. An der eigenen Misere sind nämlich die das Land beherrschenden reichen Osmanen und die aus dem Norden drohenden Russen Schuld – so muss man wenigstens das moralisch verdorbene „Krähenvolk“ der Roma und die Juden beherrschen. Und wenn nicht diese für alles herhalten müssen, dann sind es eben die Frauen und Sodomisten. Die ärmeren Bauern und Fischern wiederum betrügt Constandin gewissenlos und mit seinen Polizisten-Kollegen teilt er die gängige Sprache der Korruption.

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Ein Priester führt die im Film entblößte Weltsicht in einer Hasspredigt auf die Spitze, bei der es für den sozialen Stand jeglicher Nationalität eine pseudo-schöpferische Naturerklärung gibt: dass Menschen mit dunkler Hautfarbe von Noahs Sohn Ham abstammen, der für seine Sünde von Gott dunkel gemacht worden und zu einem Dasein als Sklaven verdammt sei; doch seien „Zigeuner“ immerhin noch Menschen, im Gegensatz zu den bösen „Riesenjuden“; im Übrigen seien Albaner von Natur aus faul, Engländer klug und Franzosen modisch – nur der Rumäne, ach, der leidet still.

Jude zeigt woher die heutigen Vorurteile und Abwertungen stammen, nämlich aus (rassistischer) Tradition und Gepflogenheit des sogenannte Victim Blaming (Täter-Opfer-Umkehr): das Opfer wird für ihre/seine Situation selbst verantwortlich gemacht, nicht die gesellschaftliche Diskriminierung. So werden Roma auch heute nur wahrgenommen, wenn sie dem Bild als „Zigeuner“ entsprechen – als unsaubere, kriminelle und abgeschottete Halbwilde. Ein Bild, dass lediglich dem entspricht, wozu man die Roma macht und welches das einzige ist, in dem die Mehrheitsgesellschaft sie heute tolerieren kann, um sich nicht mir der eigenen Verantwortung zu befassen – als minderwertig.

Constantin und Ionita finden Carfin schließlich bei einem Fischer, der ihn versteckt und nehmen auch gleich den kleinen Roma-Junge Tintiric (Alberto Dinache) mit, der auch dort lebt. Doch obwohl Constandin seinem Sohn anständiges Verhalten predigt und gegenüber dem kleinen Jungen und Corfin sogar Sympathie erkennen lässt, hindert ihn das nicht daran, Tintiric auf dem nächstbesten Sklavenmarkt zu verkaufen. Und auch das Verständnis für Carfins Angst vor dem Bojaren, bringt ihn nicht eine Sekunde ins moralische Schwanken über die geplante Auslieferung. Constandin umgeht Verantwortung, indem er seine beruflich Pflicht als Hauptmann zur Ausrede nimmt: er müsse ja Befehlen gehorchen.

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Ionitas Figur wiederum spielt die Rolle des naiven moralischen Gewissens. Doch auch wenn sein kindliches Gerechtigkeitsempfinden ihn auf die richtige Spur leitet, lassen sein schleppender Verstand und feiger Charakter nicht zu, dass Handlung auf Worte folgen. Ionita ist das unselbständige Gegenstück zum schicksalsergebenen Opportunisten Constantin. Beide sorgen dafür dass die bestehende Ordnung nicht ins Wanken gerät. Daran zeigt Jude den kollektiven psychologischen Mechanismus auf ohne den systematische Diskriminierung nicht so stabil und dauerhaft wäre: nicht nur müssen Vorurteile als glaubhaft verinnerlicht werden („das weiß man doch“/“das ist doch bekannt“), sondern vor allem auch die Erklärungen und Rechtfertigungen für die offensichtlichen Ungerechtigkeiten. Denn Verantwortung ist unbequem. Da bleiben die meisten eben lieber faul im Sattel sitzen und zitieren Märchen, die schon seit Jahrhunderten funktionieren.

Logisch konsequent und statt ins Moralisieren abzurutschen endet der Film nach der blutig-brutalen Auslieferung Carfins mit einer Lebensweisheit, die prägend ist für eine Gesellschaft ist, die das soziale und politische Versagen immer bei den anderen sucht, statt bei sich selbst: „Die Welt bleibt wie sie ist. Gott passt auf Würmer auf, aber wir nicht auf uns selbst.“ – Aferim! an Radu Jude!

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Aferim, 2015
Regie: Radu Jude
Kinostart in Deutschland: unbekannt

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